Eine Einrichtung, die über dreihundert Jahre bestanden hat, entfaltet nach ihrem Ableben ein Nachleben. So auch die Wittenberger Universität. Zu vielfältig waren ihre Hinterlassenschaften – Schriften, Sammlungen, Gebäude, Personal, Erinnerungen, Symbole usw. –, als dass diese umstandslos hätten zu den Akten gelegt werden können.
Zunächst ging es um ganz praktische Vorgänge wie die Aufteilung der universitären Bibliotheks- und Archivbestände und die Bewirtschaftung des universitären Grundbesitzes. Daneben gab es einige politisch initiierte Ausgleichsaktivitäten, die der Stadt Wittenberg den Abschied von der akademischen Bedeutsamkeit erleichtern sollten. Zu nennen sind die Gedächtnisfeiern zu runden Jahrestagen der Vereinigung von Wittenberger und hallescher Universität 1817 bzw. der Wittenberger Gründung 1502. Schließlich setzten im 19. Jahrhundert Erforschungen der Universitätsgeschichte ein, die bis heute anhalten. Im Mittelpunkt dabei steht die LEUCOREA als Universität der Reformation.
Die Lösung für die Bibliothek sollte laut Vereinigungsurkunde darin bestehen, die theologischen und philologischen Bestände zur Verfügung des 1817 gegründeten Predigerseminars und der Wittenberger Höheren Schule, des Lyceums, am Ort zu belassen. Nach einigen Querelen kamen bis Mitte des 19. Jahrhunderts drei Viertel der Wittenberger Universitätsbibliothek nach Halle, während ein Viertel in Wittenberg verblieb. Konkret waren es ca. 14.000 Buchbinderbände, die das Predigerseminar übernahm, darunter etwa 10.000 Disputationen. Rund 3.000 Drucke gehören zu einer Funeraliensammlung aus der Zeit der LEUCOREA. Auch die Bibliothek des alten Wittenberger Franziskanerklosters ist im Bestand vorhanden, darunter ca. 250 Inkunabeln.
Für das Archiv der Universität fand sich nach mancherlei Irritationen 1838 ebenfalls eine endgültige Lösung. 1830 musste noch ein Vorschlag, das meiste zu vernichten, abgewehrt werden. Nach ausführlichem Hin und Her kam man schließlich überein, die Güterverwaltungsakten der Königlichen Universitätsverwaltung zu überlassen, die Patronatsakten dem Predigerseminar dauerhaft zu übereignen und alles übrige nach Halle zu schaffen. Manche Akten fanden andere Wege. 1911 stellt der mit einer Bestandsaufnahme beauftragte Friedrich Israël fest: „Man wird an drei verschiedenen Stellen in Halle zu suchen haben: im Universitätsverwaltungsgebäude, in der Universitätsbibliothek und im Historischen Seminar. Dann in Wittenberg bei der Universitätsverwaltung und dem Prediger-Seminar, und endlich im Königlichen Staatsarchiv zu Magdeburg.“ So und noch etwas verworrender ist es bis heute (siehe zum Verbleib der Akten hier).
Der einstige Grundbesitz der LEUCOREA wurde einer eigens geschaffenen Einrichtung unterstellt: Die Königliche Universitätsverwaltung zu Wittenberg administrierte von 1817 an diesen Grundbesitz, insbesondere die Güter der Universität, betreute die Schloßkirche, das Augusteum mit dem Lutherhaus sowie das Melanchtonhaus. Ihre Mittel stammten aus dem Wittenberger Universitätsvermögen, das sich aus der Vereinigungsurkunde vom 12. April 1817 ergab, und Erträgen, der sog. Wittenberger Fundation. Sie waren einzusetzen zugunsten des Predigerseminars, des Wittenberger Gymnasiums und, soweit Überschüsse entstünden, der Universität Halle-Wittenberg. Aus dem Jahre 1913 ist der Hinweis überliefert, die Universitätsverwaltung zu Wittenberg werde jetzt von dem Rendanten der dortigen Kreiskasse wahrgenommen. Diese Verwaltung bestand bis zur Enteignung im Jahre 1952.
In den Beständen des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz finden sich die preußischen Verwaltungsvorgänge der Wittenberger Universitätsabwicklung dokumentiert (z.B. „Umwandlung des Naturalienlohns einiger Professoren aus dem Universitätsfonds in Wittenberg in eine feste Rente“).
Aus der LEUCOREA war auch eine Reihe von Stiftungen überkommen, und aus diesen wurden bis immerhin 1954 „Wittenberger Stipendien“ ausgereicht. Sie beruhten auf staatlichen und privaten Stiftungen. Zur Zeit ihrer Stiftung handelte es sich häufig um Freitische. Insgesamt 37 Stiftungen waren es, die noch einhundert Jahre nach der Aufhebung des Wittenberger Universitätsbetriebes in Gestalt von Stipendien vergeben wurden. Die Betreuung der Benefizien oblag einem „Kollegium der Professoren der Wittenberger Stiftung“: „Als die alten Wittenberger nach und nach ausstarben, trat jedes Mal an die Stelle eines Heimgegangenen ein Halle-Wittenbergischer Professor, dem zu diesem Zweck der spezifisische Charakter eines Wittenberger Professors verliehen wurde“ (Carl Robert).
Einschneidender aber war vorerst, dass Wittenberg „von einer Universitätsstadt zu einer preußischen Provinzstadt des Regierungsbezirkes Merseburg“ herabsank (Helmar Junghans). Daher kann es nicht verwundern, dass Gedächtnisfeiern zu runden Jahrestagen der Halle-Wittenberger Vereinigung bzw. der Wittenberger Gründung 1502 eine von Wehmut benetzte Erinnerung kontinuierten. Aus dem Jahre 1848 ist auch ein Versuch der Wiederbelebung der LEUCOREA bezeugt. Gedenkfeiern fanden zum 50jährigen Vereinigungsjubiläum 1867 statt, ebenso zum 100jährigen 1917. Der 450. Gründungstag der Universität 1952 war Anlass für einen großen Festumzug in Wittenberg. Das 500. Gründungsjubiläum 2002 fand dann vor allem in Halle statt.
Literatur
Peer Pasternack: Das Nachleben der Universität Wittenberg, in: Peer Pasternack/Matthias Meinhardt (Hg.), Das Universitätssterben um 1800. Strukturelle Bedingungen und kontingente Faktoren, BWV – Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin 2024, S. 183–205.
Peer Pasternack: Lose gekoppelt. Die Universität Halle-Wittenberg und die Stadt Wittenberg seit 1817: eine Beziehungsgeschichte, unt. Mitarb. v. Daniel Watermann, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2024, 332 S. Inhalt und Leseprobe
Silvio Reichelt: Der Erlebnisraum Lutherstadt Wittenberg. Genese und Bestand eines protestantischen Erinnerungsortes (Refo 500 Academic Studies Bd. 11), Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2013, 448 S. – Eingeschränkte Buchansicht bei Google Books
F[ranz] B[ogislaus] Westermeier: Doctor Martin Luther’s Denkmal zu Wittenberg, und die Feyer zur Einweihung desselben am 31ten October 1821, Verlag Wilhelm Heinrichshofen, Magdeburg 1821
Schild: Denkwürdigkeiten Wittenbergs. Ein Führer durch die Lutherstadt, 3. Aufl., R. Herrose`s Verlag, Wittenberg 1892
Cornelius Gurlitt: Die Lutherstadt Wittenberg, Bard, Marquardt & Co, Berlin 1902
Richard Erfurth: Führer durch die Lutherstadt Wittenberg und ihre Umgebung, A. Ziemsen Verlag, Lutherstadt Wittenberg 1927
Ralf-Torsten Speler: Die Vereinigung der Leucorea mit der Universität Halle und das Nachleben der Wittenberger Alma Mater, in: Martin Treu/Ralf-Torsten Speler/Alfred Schellenberger, Leucorea. Bilder zur Geschichte der Universität, Edition Hans Luft, Lutherstadt Wittenberg 1999, S. 27–33
Peer Pasternack: Das Nachleben der Universität, in: Jens Hüttmann/Peer Pasternack (Hg.), Wissensspuren. Bildung und Wissenschaft in Wittenberg nach 1945, Drei Kastanien Verlag, Wittenberg 2004, S. 30–34
Peer Pasternack: Die Spuren der LEUCOREA (1502–1817). Ein universitätshistorischer Stadtrundgang durch das heutige Wittenberg, Drei Kastanien Verlag, Lutherstadt Wittenberg 2023, 92 S. Inhalt und Leseprobe